Interview Dr. Schöning

Der Obmann für Öffentlichkeitsarbeit des ADRK Herr Henrik Bagdassarian hat ein sehr interessantes Interview mit Frau Dr. Barbara Schöning geführt. Da es im allgemeinen um die Thematik "gefährliche Hunde" geht und nicht nur um die Problematik bei Rottweilern hat er uns freundlicherweise das Interview zur Veröffentlichung überlassen.

Dr. Barbara Schöning im Gespräch mit Henrik Bagdassarian

Frau Dr. Barbara SchöningFrau Dr. Barbara Schöning studierte Tiermedizin in Berlin und spezialiserte sich nach Abschluss des Studiums als Fachtierärztin für Verhaltenskunde und Tierschutz sowie der Zusatzbezeichnung "Tierverhaltenstherapie“. An der Universität Southampton erwarb sie den Abschluss "Master of Science" (MSc) mit einer Arbeit zur Verhaltensentwicklung von Rhodesian Ridgeback Welpen. An der Universität Bristol hat sie wissenschaftlich im Bereich Verhaltenskunde gearbeitet und kürzlich ihre Arbeit zum Aggressionsverhalten bei Hunden mit dem "Doctor of Philosophy" (PhD) abgeschlossen (Evaluation and prediction of agonistic behaviour in the domestic dog). Schwerpunkt war hier neben der Entwicklung von Aggressionsverhalten auch das Testen von Hunden.

Sie ist Mitglied in Sachverständigengruppen des Bundes und verschiedener Länder zu Themen des Tierschutzes, Verhalten und Ausbildung. Sie ist Gutachterin in Tierschutzfragen und zum Thema “gefährliche Hunde“, sowie Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des VDH. In Hamburg war sie viele Jahre Präsidentin der Tierärztekammer. Sie betreibt zusammen mit zwei Kolleginnen (Dr. Kerstin Röhrs, Nadja Steffen) eine tierärztliche Gemeinschaftspraxis für Verhaltenstherapie und eine Hundeschule in Hamburg. Zusammen bringen sie es auf über 80 Jahre Erfahrung in der Ausbildung von Hunden.

Wie wird ein Hund zum gefährlichen Hund?

Seit dem 1. April 2006 ist die Rasse Rottweiler in dem Stadtstaat Hamburg in die Kategorie 3, die Kategorie der widerlegbar gefährlichen Hunden, mit aufgenommen worden.

Henrik Bagdassarian:
Im Gegensatz zu der Möglichkeit, Hunderassen aufgrund von phänotypischen Merkmalen zu unterscheiden, ist es nach wissenschaftlichen Kenntnissen nicht möglich, Hunde in “aggressivere und weniger aggressive Rassen“ einzuteilen. Teilen Sie diesen Standpunkt?

Dr. Barbara Schöning:
Aufgrund vieler mir bekannter wissenschaftlicher Arbeiten und aufgrund meiner eigenen Arbeiten bin ich ein entschiedener Gegner irgendwelcher Rasselisten. Es macht keinerlei Sinn und es ist wissenschaftlich Unsinn, Hunde zu unterteilen in aggressive und nicht aggressive Rassen. Im übrigen gibt es aber auch keine wissenschaftlich validen Methoden, Hunde aufgrund phänotypischer Merkmale sicher bestimmten Rassen zuzuordnen. Hunderassen entwickelten sich, weil Menschen Hunde für verschiedene  Gebrauchszwecke (quasi als Spezialisten) züchteten und sich dabei im Laufe der Generationen relativ einheitliche Phänotypen heraus bildeten. Diese Unterschiede bei den Spezialisten beinhalteten nicht nur so etwas wie "lange Beine/kurze Beine", sondern natürlich gibt es auch gewisse  Unterschiede im Verhalten. So gibt es Rassen, die "jagdfreudiger" sind als andere – aber auch beim Pekingesen, einem Gesellschaftshund schlechthin, finden Sie Jagdverhalten. Und es gibt Rassen, die, auf die gesamte Population gesehen, niedrigere Toleranzgrenzen für das Empfinden von Angst und Stress haben als andere Rassen. Wenn wir also von Unterschieden im Verhalten zwischen Rassen sprechen wollen, müssen wir uns solche Elemente ansehen und nicht auf das Aggressionsverhalten abstellen. Und genau genommen darf man auch dabei nicht auf Rassen gucken sondern muss sich einzelne Linien/Familien innerhalb einer Rassenpopulation ansehen.

Henrik Bagdassarian:
Der in Hamburg seit Jahren angewandte Wesenstest wurde vor Jahren an der Tierärztlichen Hochschule Hannover entwickelt. Wer war an der Entwicklung beteiligt und was ist der schwerpunktmäßige Inhalt dieses Testes?

Dr. Barbara Schöning:
Der aktuelle Wesenstest wurde 2000 in Hannover erarbeitet. Anfänglich hatte er jedoch eine ganz andere Zielrichtung. Es war von offizieller Seite geplant, mit diesem Test in Niedersachsen die Züchter zu kontrollieren und gedacht als eine Art Zuchttauglichkeitsprüfung für alle größeren Hunderassen; dies besonders unter dem Aspekt, Hunde mit Eigenschaften, die von Menschen unerwünscht waren, nicht für die Zucht zu verwenden. Grundlage für den von u.a. Herrn Professor Hackbarth, Frau Dr. Federsen-Petersen, Frau Dr. Schalke und meiner Person entwickelten Test waren international etablierte Testverfahren aus Schweden, Großbritannien und Holland, die bereits wissenschaftlich validiert waren. Unter anderem wurde bei solchen Tests auch das Aggressionsverhalten der Hunde bewertet. Der Vorfall 2000 in Hamburg führte dann dazu, dass dieser schon im Vorwege erarbeitete Test als Wesenstest für die Hunde der neu eingeführten Listen benutzt wurde. Grundsätzlich kann man "das Wesen" eines Hundes genauso wenig "mal eben" testen wie das Wesen eines Menschen. Letztendlich dienen diese Tests dazu, Informationen über Frustrations- und Stresstoleranz eines Hundes und seine Angstbereitschaft zu gewinnen und zu sehen, welche Verhaltensmuster er schwerpunktmäßig zeigt, wenn diese Toleranzgrenzen überschritten werden. Damit kann man dann in einem gewissen Umfang Aussagen zum Gefahrenpotential geben, welches von diesem Hund ausgeht. Je korrekter der Test durchgeführt wird und je mehr theoretisches Wissen und praktische Erfahrung der Tester mitbringt, desto verlässlicher ist der generelle Aussagewert solch einer Beurteilung. Allerdings ist kein Test der Welt derart sicher, dass es z.B. mit dem Tierschutzgesetz vereinbar wäre, einen Hund allein aufgrund eines negativen Testergebnisses zu euthanasieren.

Henrik Bagdassarian:
Man kann somit sicherlich sagen, dass wir hier in Hamburg im Vergleich zu anderen Bundesländern einen sehr hoch qualifizierten Test haben. In anderen Bundesländern herscht ja teilweise ein regelrechter Wildwuchs, was die Art und Einheitlichkeit der Tests betrifft. Es ging in der Vergangenheit in anderen Bundesländern ja teilweise so weit, dass ein zu testender Hund an einem Anhänger mit bellenden Hunden vorbeigeführt wurde und keinerlei Laut von sich geben durfte.

Dr. Barbara Schöning:
Dies ist natürlich absoluter Unsinn und hat mit sachkundiger Wesensbeurteilung nichts zu tun. Grundlage eines wissenschaftlich fundierten Testes ist im Grunde die Überprüfung des Ausdrucks- und Kommunikationsverhalten des Hundes in alltäglichen Situationen. Aggression gehört zum normalen Verhaltensrepertoire jedes Hundes und somit zum Bereich Sozialverhalten. Aggression ist im Tierreich eine von mehreren adäquaten Reaktionen auf eine Bedrohung. Normales Aggressionsverhalten beinhaltet verschiedene Elemente, wie z.B. Drohen und Schnappen auf Distanz. Normalerweise durchläuft es diverse Eskalationsstufen in einer Konfliktsituation. Kommt der Hund mit seinem Drohverhalten nicht zu dem angestrebten Resultat (Misserfolg), schaltet er unter Umständen eine Stufe höher und schnappt..

Henrik Bagdassarian:
Ist ein Wesenstest also nur eine Momentaufnahme des Hundes?

Dr. Barbara Schöning:
Natürlich, es ist eine konkrete Beurteilung zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben des Hundes. Hier muss man trennen, zwischen dem was sich der Gesetzgeber von solch einem Test erhofft und dem was er tatsächlich leisten kann. Die Politiker haben gerne eine ja/nein-Aussage. Sozusagen die absolut gültige Einteilung der Hunde in "Gute" und "Böse". Dies ist nicht machbar. Ein Hund kann noch so "Gut" sein – wenn der Mensch am anderen Ende der Leine "Böse" ist, wird auch solch ein Hund unter Umständen schnell zu einer Gefahr für Dritte. Dieser Punkt wird in den Hundegesetzen nicht genügend berücksichtigt und insofern sind sie hinsichtlich der Gefahrenabwehr auch nur Mogelpackungen.

Henrik Bagdassarian:
Die Aufgabe eine fundierten Testes liegt ja in erster Linie darin, Hunde mit übersteigerter Aggression herauszufiltern. Wie wird dies erreicht?

Dr. Barbara Schöning:
Wie gesagt gibt der Wesenstest dem Gutachter die Information, wie die entsprechenden Toleranzgrenzen des getesteten Hundes für Angst, Stress und Frustration sind und welche Verhaltensmuster er schwerpunktmäßig zeigt, wenn diese Toleranzgrenzen überschritten sind. Hier wird dann auch erkennbar, ob der Hund extrem schnell gestresst reagiert bzw. ob er bei leichtem Stress eventuell übersteigert und nicht passend zur Situation reagiert.

Ein weiterer wichtiger Aspekt, der in den Test mit einfließt, ist das gemeinsame Auftreten des Gespannes Hund und Halter. Hat man einen Hundehalter, der sachkundig ist und seinen Hund genau kennt, kann man wichtige Rückschlüsse auf das eventuelle Gefahrenpotential in der
Zukunft treffen. Wenn z.B. ein Hund mit niedriger Stresstoleranz unter Stress aggressives Verhalten zeigt und der Besitzer dies weiß und gleichzeitig ein guter Grundgehorsam vorhanden ist, kann das Gefahrenpotential deutlich reduziert werden. Deshalb ist es ungemein wichtig immer den Hund und den Halter zusammen zu bewerten.

Henrik Bagdassarian:
Der Hund als soziales Wesen verfügt bei einer entsprechend guten Prägungs- und Sozialisierungsphase über ein komplexes Repertoire an optischen und akustischen Kommunikationsmitteln und weiß diese eben auch in einer aggressiven Auseinandersetzung entsprechend einzusetzen. Wann ist ein Hund im biologischen Sinne übersteigert aggressiv?

Dr. Barbara Schöning:
Von übersteigert aggressiv spricht man, wenn z.B. offensives Aggressionsverhalten (Beißen) regelmäßig von Anfang an in individuellen Situationen ohne vorgeschaltetes Drohen gezeigt wird.

Ebenso wenn ein Hund in einer Frust- oder Stresssituation Appetenzverhalten für aggressives Verhalten zeigt und z.B. gezielt nach Objekten/Subjekten sucht, die er beißen kann, ohne dass diese Objekte ihn bedrohen oder mit ihm in Kontakt treten. Bei Hund/Hund Kontakten fallen übersteigert aggressive Tiere häufig dadurch auf, dass sie in einer entsprechend hohen Erregungslage nicht auf adäquate Demutssignale oder andere Deeskalationssignale ihres Gegenübers reagieren und weiter beißen.

Henrik Bagdassarian:
Wenn man von aggressivem Verhalten spricht, was ist angeboren und was ist erlernt?

Dr. Barbara Schöning:
Generell kann man sagen, das die Möglichkeit des Zeigens von aggressivem Verhalten angeboren ist. Jeder Hund kann knurren, bellen oder beißen. Jeder Hund kann z.B. die Nase kräuseln, ein Signal für das Gegenüber, auf Distanz zu bleiben. Erlernt wird dann der korrekte Einsatz dieser angesprochenen diversen Kommunikationsmittel. Der Hund lernt diese Signale/Verhaltenselemente beim Gegenüber zu erkennen und richtig einzuordnen und selber passend darauf zu reagieren. Hier stehen die Züchter in einer hohen Verantwortung. Jeder Welpe muss ausreichend Gelegenheit haben, schon von früh an spielerisch diese diversen Arten der Kommunikation zu üben und zu lernen.

Henrik Bagdassarian:
Mit der Rasse Rottweiler ist in Hamburg eine alte deutsche Gebrauchshundrasse in die Kategorie 3 mit aufgenommen worden. Ein Hund, mit dem auch der für einen Gebrauchshund geläufige Hundesport VPG (Vielseitigkeitsprüfung für Gebrauchshunde) gemacht wird. Wie sehen Ihre Erfahrungen innerhalb des Wesenstests im Hinblick auf im Schutzdienst ausgebildete Hunde aus?

Dr. Barbara Schöning:
Auch vor der Listung des Rottweilers in Hamburg hatte ich bei Wesenstests schon mit den diversen Gebrauchshundrassen, darunter auch einige Hunde, die im Schutzhundesport ausgebildet waren, zu tun. Ich vertrete die Meinung, dass eine korrekt und nach den neuesten Erkenntnissen des Lernverhaltens eines Hundes ausgeführte Schutzhundausbildung als positiv zu betrachten ist. Ein korrektes und gutes Training erhöht generell die Sicherheit des Hundes, ganz egal, ob es um reinen Gehorsam oder einen Sportbereich geht. Schutzhundesport ist dann ein Hundesport wie jeder andere auch. Ich halte ihn, bei korrekter Ausführung, auch nicht für bedenklich im Sinne einer Steigerung der Aggressionsbereitschaft eines Individuums. Die mir im Test vorgeführten Hunde mit einer erfolgreich abgeschlossenen Schutzhundausbildung fielen im Durchschnitt sehr positiv auf. Diese Hunde waren in der Regel sorgfältig und korrekt ausgebildet worden, die Halter verhielten sich dementsprechend freundlich und ruhig im Umgang mit dem Hund. Die Hunde waren stresstolerant, sicher und gut kontrolliert. Gerade bei den drei im Wesenstest vorkommenden Bedrohphasen war bei diesen Hunden deutlich zu beobachten, dass sie ganz klar zwischen einer Bedrohung im Alltagsleben und einer Bedrohung in Figurantenmanier unterscheiden können. Das Verhalten der Hunde ließ sich dabei wie mit einem Schalter zwischen "Sport" und "Alltag" umlegen. Bei "Sport" kam es zum Packen des Arms des Testers, bei "Alltag" wichen die Hunde zurück und konzentrierten sich auf den Halter bzw. zeigten aktives Demutsverhalten. Dies konnte ich natürlich nicht nur bei Rottweilern beobachten, sondern auch bei Schäferhunden, Riesenschnautzern oder anderen Gebrauchshunden.

Henrik Bagdassarian:
Welche Fehler könnten bei der Ausbildung im Hundesport gemacht werden?

Dr. Barbara Schöning:
Wenn z.B. ein Hund über Schmerzzufügung zum Beißen oder Verbellen gebracht wird. Dies ist nicht nötig, wenn lernbiologische Grundlagen konsequent und korrekt befolgt werden. Nicht korrekt wäre es auch, den Hund im Training so massiv unter Stress zu setzen, dass er handlungsunfähig wird und nur noch aus großer Angst bzw. massiver Unsicherheit bellt oder beißt. Generell sollte Schutzhundesport nur mit Hunden gemacht werden, die eine vernünftige Beißhemmung gelernt haben. Ein Hund mit einer vernünftigen Beißhemmung ist auch im Sport kalkulierbarer in seinem Beißverhalten. Es ist dann auch hier wieder der Mensch, der über seine Kommandos den Hund steuert. Das geforderte Packen des Figuranten bei der VPG zeigen im Übrigen auch Hunde mit einer guten Beißhemmung – das eine schließt das andere nicht aus.

Henrik Bagdassarian:
Manchmal ist zu hören, einem sogenannten aggressiven Verhalten des Hundes in der Erziehung und Ausbildung müsse man ebenso begegnen. Wie stehen sie dazu?

Dr. Barbara Schöning:
Sicherlich ist es möglich und leider auch nicht selten üblich ein aggressives Verhalten durch eine weitere Aggression (z.B. anbrüllen oder massiv mit der Leine zu manipulieren) zum Abbruch zu bringen, nur erzeugt es bei den Hunden in solchen Fällen keinen dauerhaften Lernerfolg, dass z.B. ein bestimmtes Hundeverhalten unerwünscht war. Es werden nur die Symptome und nicht die Ursachen bekämpft. Beim nächsten Training muss der Hund dann wieder niedergebrüllt werden, weil er das unerwünschte Verhalten wieder zeigt. Da liegt für mich kein Sinn drin – von der Tierschutzrelevanz einmal abgesehen, die solche Besitzeraggression haben kann. Ich will meinem Hund doch nicht regelmäßig aggressiv begegnen. Ich will ihm etwas beibringen – er soll etwas lernen – und danach will ich das unerwünschte Verhalten nicht mehr sehen.

Henrik Bagdassarian:
Könnte Zwang in der Ausbildung negative Folgen für das Verhalten des Hundes haben?

Dr. Barbara Schöning:
Diese Frage ist mit einem ganz klaren Ja zu beantworten. Es gibt gerade bei Hunden, die mit Starkzwang gearbeitet wurden, viele Beissvorfälle gegenüber ihren eigenen Besitzern. Tierschutzwidrige Ausbildung bedeutet in der Regel, dass ein Hund unter Schmerzzufügung
und mit Gewalt ausgebildet wird. Wie schon vorab erwähnt, kann auch diese Art der Ausbildung, oberflächlich betrachtet, zum Erfolg führen, sie widerspricht jedoch jeglichen wissenschaftlichen Erkenntnissen über Lernverhalten bei Hunden. Dies gilt natürlich auch für Hunde, bei denen mit starkem psychischem Druck gearbeitet wird. Auch hier kann sich das Aggressionsverhalten gegen den Besitzer wenden.

Henrik Bagdassarian:
Wie eingangs von Ihnen schon erwähnt wurde, ist der Wesenstest im Jahr 2000 quasi als eine Art Zuchttauglichkeitsprüfung entwickelt worden. Den verschiedensten Testsituationen, so u.a. Hund-Mensch / Hund-Hund / Hund-Umwelt steht ein entsprechendes Skalierungssystem
(siehe Kasten) für die entsprechenden Reaktionen des geprüften Hundes gegenüber. Von Skalierung 1 – Meideverhalten bzw. Ruckzug ohne aggressive Signale- bis hin zur Skalierung 7 – Beruhigung nach Eskalation erst nach über 10 Minuten- wurde ein stufenweises Bewertungssystem eingeführt. Hierbei muss man ganz eindeutig sagen, dass der Hund gerade auch in den starken Bedrohphasen eine entsprechende Reaktion zeigen darf.

Dr. Barbara Schöning:
Selbstverständlich darf ein Hund unter starker Bedrohung auch aggressives Verhalten wie z.B. Knurrren oder Schnappen auf Distanz zeigen. Dies wäre verhaltensbiologisch völlig normal. Einige wenige Skalierungen bis 4 oder sogar 5 wären also, abhängig von den
Situationen, in denen sie gezeigt werden, noch kein Grund einen Hund den Test nicht bestehen zu lassen. Allerdings muss dabei schon differenzierter bewertet werden (in welchen Situationen wurde bis 4 oder 5 skaliert und wie hat sich der Hund nach Abbruch der Bedrohung verhalten). In diesen Fällen ist schon wichtig zu sehen, wie gut der Besitzer dann seinen Hund kontrolliert bzw. ob man sich dem Hund danach freundlich wieder annähern kann. Hier kann man nur wieder betonen, dass aggressives Verhalten zum normalen Verhaltensrepertoire eines Hundes gehört. Es dient als Warnung und heißt "bleib auf Abstand". Wer sich einem drohenden Hund weiter annähert, hat selber schuld. Genau das will ich im Test herausfinden: droht er wenn er bedroht wird ( bis zum starken Drohen mit Schnappintention bei massiver Drohung von mir) und ist er danach wieder ruhig, wenn meine Bedrohung aufhört. Unerwünscht sind Skalierungen von 6 oder 7 oder ein gehäuftes Auftreten von 4 oder 5 (z.B. wenn der Hund außerhalb von direkten Bedrohungssituationen offensives Verhalten zeigt). Neben der Skalierung sollte aber auch immer eine Beschreibung des Verhaltens erfolgen. Um das Gefahrenpotential eines Hundes korrekt einzugrenzen reicht es nicht, einfach nur das aggressive Verhalten in eine Skala zu setzen. Man sollte auch beschreiben, ob der Hund Unsicherheit gezeigt hat, ob er Demutsverhalten zeigen kann oder andere Möglichkeiten zur Konfliktdeeskalierung beherrscht etc.

Henrik Bagdassarian:
Der Hund wird beim Test auch bewusst unter Stress gesetzt. Wenn ein Hund in einen Stress- bzw Angstzustand gerät sollte er zudem immer noch in der Lage sein, das komplette Verhaltensrepertoire in der Kommunikation zu zeigen.

Dr. B.Schöning:
Wünschenswert ist eine variable und kompetente Kommunikation auch unter starkem Stress sicherlich. Solche Hunde geraten einfach selten in Situationen, in denen ihnen rein das Beissen zur Problemlösung bleibt. Damit sind sie alltagstauglich und haben ein niedriges Gefährdungspotential für Dritte.

Henrik Bagdassarian:
Der gesamte Test wird per Video aufgezeichnet, u.a. auch um per Zeitlupe Formen der Kommunikation, die mit bloßem Auge schwer erkennbar sind, zu erkennen?

Dr. Barbara Schöning:
Manchmal muss man sich die Videos in Einzelbildabfolge ansehen, um den Dingen auf die Spur zu kommen. In einer Hund-Hund-Begegnungssituation sehen wir z.B. den zu testenden Hund "plötzlich" mit Knurren nach vorne springen – in der Einzelbildabfolge sehen wir dann, dass der andere Hund ganz kurz davor geknurrt hat oder ein Drohfixieren zeigte. Unser zu testende Hund hat also auf die Drohung des anderen reagiert und nicht umgekehrt. Solche Informationen sind wichtig für die Beurteilung. Auch bei den Hund-Mensch-Situationen kann es vorkommen, dass man in Echtzeit nicht korrekt feststellen kann, ob ein Hund schnappte oder nicht. Auch hier zeigt dann eventuell erst die Zeitlupe, dass der Hund mit offenem Maul vorsprang, weil er bellte und nicht weil er gezielt nach dem Mensch schnappen wollte. Man hört natürlich das Bellen im Video, sieht aber tatsächlich in Echtzeit nur eine schnelle Annäherung mit offenem Maul. Erst die Zeitlupe zeigt dass das Maul schon vor dem Moment der engsten Annäherung an den Menschen wieder geschlossen war – weil es eben kein Schnappen war.

Henrik Bagdassarian:
Gibt es gewisse Statistiken, wie hoch seit 2000 die Durchfallquote ist, bzw. wieviele Hunde mit Auflagen (Leine/Maulkorb) versehen wurden?

Dr. Barbara Schöning:
Einige Bundesländer führen eigene Statistiken, aber soweit mir bekannt ist, weder alle Länder noch komplett über die letzten 6 Jahre. Teilweise ist es auch schwer, an diese Zahlen zu gelangen. Insgesamt scheint aber die Durchfallquote in den Ländern mit standardisiertem Test gering zu sein. Dort wo nicht einheitlich nach Standard getestet wird, kann man die Zahlen sowieso nicht seriös vergleichen.

Henrik Bagdassarian:
Wie sehen Sie in der Zukunft die Entwicklung der Rasselisten?

Dr. Barbara Schöning:
Wenn man es von der wisssenschaftlichen Seite her betrachtet, müssten sie eher morgen als übermorgen verschwinden – auch im Hinblick auf eine effektive Gefahrenabwehr. Von der pessimistischen Seite her betrachtet werden sie uns wohl noch eine Zeitlang erhalten bleiben.
Sie sind so schön einfach in ein Gesetz zu schreiben und bieten sich so einfach als aktionistische Feigenblätter für die Politiker an. Sie machen halt was her in den Augen der uninformierten Laien ("seht her wir tun was – also wählt uns wieder").

Henrik Bagdassarian (BfÖ)

http://www.adrk.de